Ukraine entschärft Meldungen von eigenen Truppen

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Ein russischer Soldat schwingt eine Flagge seiner Einheit über der zurückeroberten Stadt Sudscha in Kursk.
Zeichen gesetzt: Ein russischer Soldat des Kaschtan-Bataillons der taktischen Gruppe Achmat der Spezialeinheiten markiert ein Gebiet in der Stadt Sudscha, das von russischen Streitkräften im Zuge der russischen Militäroperation zurückerobert wurde in der Region Kursk, Russland. © IMAGO/Alexander Kharchenko

Kursk scheint verloren zu gehen – ein Beispiel für militärische Fehler der Ukraine. Während Soldaten vom Chaos sprechen, beschwichtigt die Führung.

Kursk/Kiew – Sie hätten „ausführliche Berichte ukrainischer Soldaten erhalten, die von einem ‚katastrophalen‘ Rückzug angesichts schweren Beschusses, der Zerstörung militärischer Ausrüstungskolonnen und ständiger Angriffe durch Schwärme russischer Drohnen berichten“, schreiben Jonathan Beale und Anastasiia Levchenko. Ihr Thema ist der Rückzug ukrainischer Truppen vor Wladimir Putins Armee bei Kursk. Während die beiden BBC-Reporter von Soldatenschilderungen „wie in einem Horrorfilm“ berichten, stützen sich andere Medien auf weit weniger drastische Formulierungen. Die Führung der Ukraine will sogar Glauben machen, ihre Kräfte hielten weiterhin einen „signifikanten“ Teil Kursks, wie der Sender n-tv berichtet.

General Oleksandr Syrsky hatte einen sofortigen ukrainischen Rückzug aus dem Gebiet abgelehnt, wie die New York Times (NYT) berichtet hat. Der oberste ukrainische Militärkommandeur habe demgegenüber erklärt, die ukrainischen Truppen würden „die Stellung in der Region Kursk so lange halten, wie es sinnvoll und notwendig sei“, so die NYT weiter. Laut ihrem Autoren Matthew Mpoke Bigg hätten ukrainische Soldaten sowohl von geordneten als auch chaotischen Rückzügen gesprochen, als russische Truppen ihre Linien durchbrochen hatten. Die spannende Frage wird sein, wie lange die Ukraine ihre Stellungen wird halten können.

Ukraine im Rückwärtsgang: Berichte von „katastrophalem“ Rückzug angesichts schweren Beschusses

Die BBC stützt sich auf „ausführliche Berichte ukrainischer Soldaten“, die von einem „katastrophalen“ Rückzug angesichts schweren Beschusses, der Zerstörung militärischer Ausrüstungskolonnen und ständiger Angriffe durch Schwärme russischer Drohnen berichten. Der Soldat mit dem Kampfnamen „Wolodymyr“ beispielsweise legt in seinen Ausführungen gegenüber dem britischen Sender nahe, dass wohl auch taktische Fehler den Vormarsch der Russen begünstigt haben mögen.

„Eine kleine Sowjetarmee kann eine große Sowjetarmee nicht besiegen.“

Ukrainische Truppen hätten beispielsweise ihr Material über die Autobahn zwischen Sudscha und der ukrainischen Region Sumy zurückverlegen wollen oder müssen – russische Truppen hätten das ausgenutzt: „Wolodymyr‘ sagte, dass man diese Straße vor einem Monat noch relativ sicher befahren konnte. Ab dem 9. März war sie ‚vollständig unter feindlicher Beschusskontrolle – Drohnen rund um die Uhr. In einer Minute sieht man zwei bis drei Drohnen. Das ist viel“, sagte er, wie die BBC berichtet.

Warum passiert das, haben Oksana Kovalenko und Glib Gusiev Ende vergangenen Jahres gefragt. Für das ukrainische Online-Medium Babel haben sie sich von hochrangigen Offiziere der ukrainischen Streitkräfte erklären lassen, warum ukrainische Verteidigungslinien langsam zusammenbrechen – und was dagegen zu tun sei. Offenbar entspringe die Lage sowohl russischer Cleverness als auch ukrainischer Kriegsmüdigkeit.

Russland hat gelernt: Die Russen rückten vor, weil sie ihre Taktik angepasst haben

Die Russen rückten demnach vor, weil sie ihre Taktik angepasst hätten: „Sie schicken drei bis zehn Mann zu einem Probeangriff. Gelingt ihnen der Vormarsch, bemerken die Russen die Lücke in der Verteidigung und schicken 30 bis 50 Mann in einem Strom dorthin. In dieser Zeit sollten wir Gegenmaßnahmen entwickeln und abwägen. Denn normalerweise springen unsere Jungs sofort heraus und rennen weg, sobald die Russen in unseren Schützengraben einfallen“, zitieren sie ihre Quelle.

Dabei sei keine Feigheit Auslöser des Chaos, sondern fehlende Disziplin aufgrund mangelhafter Ausbildung. Die Soldaten würden sich verloren vorkommen, wenn der Feind 50 Meter vor ihnen steht und sie Unterstützung weder von ihrer Artillerie bekämen noch von Drohnen. Allerdings, so sollen die Quellen betont haben, sei die Moral von Brigade zu Brigade unterschiedlich ausgeprägt. Die Kampfkraft der Brigaden hängt offenbar auch von der Befehlsstruktur ab – Kiew hatte eingangs des Ukraine-Kriegs mit schneller Informationsübermittlung Boden gutgemacht. Offenbar haben sich diese Vorteile inzwischen egalisiert, wie die Babel-Autoren berichten, indem sie eine überraschende Kritik am ukrainischen Oberbefehlshaber Oleksandr Syrskyj üben.

Womöglich scheinen die ukrainischen Befehlsstrukturen doch den russischen stärker zu ähneln als bisher angenommen. Wenn Syrskyj den Befehl über eine operativ-strategische Truppengruppe ausübe, würden die anderen Truppenteile „einfrieren“, wie auf Babel zu lesen ist. „Bei uns dauert alles lange. Es ist notwendig, dass die Offiziere tatsächlich das Kommando haben und nicht nur Befehle von oben erteilen. Wenn alles richtig gemacht wird, haben wir alle Chancen“, sagt der Offizier im Brigadestab, den Babel zitiert.

Selenskyj in der Kritik: „Das schwächste Glied im Führungssystem der Streitkräfte ist der Generalstab“

Auf Ebene der Brigaden äußert ein Stabschef Kritik an der Verzahnung der Brigaden selbst – in der Bundeswehr beträgt die Sollstärke einer Brigade rund 5600 Kräfte. In der US-Armee fängt eine Brigade bei 3000 Kräften an; dieser Armee-Verband wird in der Regel geführt von einem Oberst, der dem Stabschef unterstellt ist und von dem seine Befehle erhält. Die Babel-Quelle beklagt, dass wenig oder keine Interaktion zwischen benachbarten Brigaden bestünde, was den Kommandeuren unmöglich mache, einander zu decken und eine einheitliche Frontlinie zu halten. Insofern sei die ukrainische Armee doch ständig in Gefahr, dass unzureichend unterstützte Einheiten eingekesselt würden.

Seit Anfang des Jahres wird der Armeeführung vorgeworfen, neue Brigaden aufzustellen, obwohl die alten längst ausgezehrt seien und aufgefüllt gehörten. Die Entsendung der vermeintlich kampfstärksten Einheiten an die Front bei Kursk hat vermutlich stark dazu beigetragen, eine im Kern geschwächte Armee noch weiter auszudünnen. „Das schwächste Glied im Führungssystem der Streitkräfte ist der Generalstab. In den letzten Jahren hat er seine Aufgaben nicht erfüllt“, kritisieren Kovalenko und Gusiev.

Kursk-Desaster: Neuer Generalstabschef soll die Effizienz des Managements steigern

Ihnen zufolge sei der militärische Oberbefehlshaber Oleksandr Syrskyj der gleiche Missgriff wie Walerij Saluschnyj – Letzter hatte ihnen zufolge zu sehr den Fokus auf die operativ-taktische Ebene gelegt als auf die strategische – was möglicherweise die Situation in Kursk mit verursacht hat. „Derzeit agiert der Generalstab nicht auf strategischer Ebene, sondern auf operativer Kommandoebene – er stopft Lücken“, schreiben Kovalenko und Gusiev.

Auch deshalb mag der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj jetzt seinem Generalstab einen neuen Chef vorgesetzt zu haben: Andrii Hnatow wird neuer Generalstabschef der Ukraine. Wie der Kyiv Independent berichtet, sei Hnatov derjenige im ukrainischen Militärapparat, der „mit der Aufgabe betraut wurde, die Effizienz des Managements zu steigern“, wie Selenskyj angekündigt hat. Möglicherweise kommt aber Hnatow zu spät, um in Kursk wieder in die Offensive gehen zu können.

Neuer Anlauf im Ukraine-Krieg? „Seine Aufgabe besteht darin, mehr Kampferfahrung einzubringen“

„Seine Aufgabe besteht darin, mehr Kampferfahrung einzubringen, die Erfahrung unserer Brigaden in der Planung von Operationen, sowohl defensiv als auch offensiv, sowie eine aktivere Entwicklung des Korpssystems. Alles, was unsere Brigaden aus dem Krieg gelernt haben, sollte auf der Planungsebene hundertprozentig umgesetzt werden“, so Selenskyj laut der Kyiv Independent. Die Babel-Autoren Kovalenko und Gusiev hatten Kursk als wertvolles Pfand für mögliche Verhandlungen gesehen. Ihnen zufolge würde der Truppenabzug dort keine Beruhigung für den Donbas bringen.

Im Gegenteil hätten die Russen dann genug Kräfte mobilisiert, um die Region um Sumy genau so tief gestaffelt okkupieren zu können, wie die Ukraine das anfangs ihrer Offensive in Kursk realisiert hatte. Dann würden die Feindseligkeiten auf ukrainischem Territorium stattfinden, nicht auf dem des Feindes, resümieren die Autoren. Ihnen zufolge sei Kursk nur die Folge eines Versagens auf mehreren Ebenen, wobei die unzureichenden Waffenlieferungen des Westens eben nur eine Seite der Medaille abbildeten, wie Kovalenko und Gusiev schon am Beginn ihres Berichts über ihre Quellen klargestellt wissen wollten:

„Fast jeder unserer Interviewpartner sagte während des Gesprächs dasselbe: ‚Eine kleine Sowjetarmee kann eine große Sowjetarmee nicht besiegen.’“

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