Grüne nach der Wahl: Haben sie zahlreiche Wähler im Stich gelassen?
Analyse
Habecks Grüne setzen im Wahlkampf auf einen Kurs in der Mitte. Ist das die falsche Strategie in polarisierten Zeiten? Klar ist: Die Partei wird sich damit beschäftigen, wie viele Wähler die Linke hinzugewinnen konnte.
„Hätte noch schlimmer kommen können“ – diesen Satz hörte man anfangs oft auf der Grünen-Wahlparty am Sonntagabend. An den Wänden hingen Plakate: Robert Habeck beim Joggen, Habeck im Wahlkampf, Habeck Arm in Arm mit Baerbock.
Die erste Analyse vieler Grüner war: Ohne diesen Kanzlerkandidaten wären die Grünen womöglich genauso abgestürzt wie die FDP oder SPD. Schließlich begannen die grünen Werte in den Hochrechnungen zunehmend zu sinken – und es wurde deutlich, dass es wohl nicht für eine Regierungsbeteiligung reicht, während die politischen Ränder enorm gestärkt wurden.
Noch vor Monaten hatten die ehemaligen Ampel-Partner die Hoffnung: Nach dem Bruch wäre wieder mehr Profilierung möglich. Der ständige Streit würde nicht mehr alle nach unten ziehen. Man hörte oft, dass dies die Umfragewerte in die Höhe treiben würde. Ein „Habeck-Faktor“ wurde von Parteistrategen hinzugefügt. Und dann, so die Kalkulation, würde es doch für Schwarz-Grün reichen.
Doch der Wahlausgang zeigt: Die bekannten Ampel-Gesichter konnten sich binnen Wochen nicht neu erfinden. Auch Habeck nicht. Und die schwarz-grünen Träume sind zerplatzt. Die Union ist nicht stark genug – aber auch die Grünen nicht.
Rund 700.000 Stimmen an die Linke verloren
Die Grünen müssen sich vor allem mit der Frage beschäftigen, wie stark die Linke in den vergangenen Wochen Wähler hinzugewinnen konnte. Es zeigt sich, dass durchaus noch Zuwächse im linken Lager möglich sind – nur fühlten sich diese Wähler offenbar nicht von den Grünen angesprochen.
Rund 700.000 Stimmen haben laut der vorläufigen Wählerwanderung von infratest dimap von den Grünen zu den Linken gewechselt. In den Umfragen kurz vor der Wahl stimmten 41 Prozent der Befragten der Aussage zu, die Linke sei „eine gute Alternative für alle, die sich bei SPD und Grünen nicht mehr aufgehoben fühlen“.
Vielleicht hat die Partei das Potenzial der Linken zu lange unterschätzt. Erst in den letzten Tagen vor der Wahl haben Spitzen-Grüne versucht, genau diese Wählergruppe anzusprechen. „Nur eine linke Opposition, das reicht halt nicht, das ist auch nicht der Sinn von Politik“, sagte Habeck in einem Podcast.
Infografik
Wählerwanderungen
Habecks oberste Priorität: Bündnisfähigkeit
Es gab Fernsehinterviews, Social-Videos und vieles mehr mit der Botschaft: Man muss auch regieren wollen, um etwas zu verändern. „Sonst steht man nur am Spielfeldrand und ruft den anderen zu: ‚Hey, lauft mal schneller!'“, sagte Habeck. „Man muss aber selber laufen.“ Nur dann könne man Projekte wie das Selbstbestimmungsrecht, Demokratieförderung oder erneuerbare Energien wirklich verteidigen.
Dass die Linke so zulegen konnte, führt Habeck auf Merz‘ Abstimmung im Bundestag gemeinsam mit der AfD zurück. Dies habe vor allem junge linke Menschen mobilisiert. Habeck sagt, er konnte ihnen keine Abfuhr an Merz bieten. Denn für ihn steht Kompromiss- und Bündnisfähigkeit ganz oben. Irgendjemand muss schließlich regieren – so könnte man es salopp formulieren. Das wurde gerade für junge linke Wähler als zu wenig Abgrenzung von der Merz-CDU wahrgenommen, so die grüne Sicht.
Grüne setzten wenig auf Klimaschutz
Ob der linke Höhenflug allein durch diesen Moment erklärbar ist, müssen die Grünen nun analysieren. Denn es könnte auch daran liegen, dass die eigene Kampagne über weite Strecken wenig auf Klimaschutz setzte und erst kurz vor der Wahl dieses Kernthema bediente. Ebenso werden sich die Strategen in der Parteizentrale anschauen müssen, wie und womit die Linken ihre Social-Media-Erfolge erzielt haben.
Auch der klare Fokus auf die Wirtschaft, den dieser Wahlkampf hatte, hat den Grünen keinen Stimmenzuwachs beschert. Laut den Studien von infratest dimap hat die Zustimmung zu Aussagen wie: „Die Grünen kümmern sich zu wenig um Wirtschaft und Arbeitsplätze“ zugenommen. 62 Prozent der Befragten teilen diese Meinung. Das ist für eine Partei, die den Wirtschaftsminister stellt, verheerend.
Infografik
Grüne aus Wählersicht
Mitte-Kurs in polarisierten Zeiten
Hinzukommt der starke Gegenwind, dem sich die Partei seit rund drei Jahren ausgesetzt sieht. Dazu zählen, darauf weisen die Grünen zurecht hin, unfaire Methoden und Manipulationen. Erste Recherchen zeigen, dass hier auch russische Einflussnahme eine Rolle spielen könnte: Mutmaßliche Saboteure, die Bauschaum in Auspuffrohre sprühten und grüne Flyer hinterließen, sollten womöglich eine anti-grüne Stimmung verbreiten. Laut Sicherheitsbehörden gab mindestens einer der Beschuldigten an, er und andere seien von Russland dafür angeworben worden. Welche Einflussnahme es online gab, muss noch untersucht werden.
Klar ist: In einer so polarisierten Gesellschaft sind die Ränder stärker geworden. Die Grünen mit ihrem Mitte-Kurs unter Habeck haben es da schwer. Sie befinden sich in der Zange: Werden sie härter bei Themen wie Migration oder Sicherheit, strömen enttäuschte Anhänger zur Linken. Sobald die Grünen nach links blinken, etwa mit Feminismus und anderen gesellschaftspolitischen Themen, drohen sie Wähler an die Union zu verlieren.
Bei einer möglichen Großen Koalition hat die Mehrheit gerade so genügend Stimmen. Bei den Grünen geht man davon aus, dass die CSU alles tun wird, damit sie zustande kommt – und die Grünen sich in der Opposition in eine neue Rolle einfinden müssen.