Andreas Wellinger: Der Hoffnungsträger aus Traunstein – Sport
Die innere Verfassung eines Menschen und seine Erziehung lassen sich oft schon in kleinen Details erkennen, auch wenn ein wirkliches Eindringen in die Gedankenwelt anderer unmöglich ist. Andreas Wellinger vermittelte am Sonntagabend bei der Pressekonferenz im Skizentrum Granasen nahe Trondheim einige dieser Nuancen. Als ein Reporter, der versäumt hatte, sich vorzustellen, ihm auf Englisch eine Frage stellte, antwortete er zunächst lächelnd: „Und wer sind Sie?“ Nach der letzten Frage wünschte er allen einen „noch schönen Abend“. Der Eindruck: Da sitzt jemand am Tisch, der interessiert und offen ist – und zudem sehr gut erzogen.
An diesem Tag wurde Wellinger bei der Nordischen Ski-WM zum Hoffnungsträger der Deutschen, und das nicht zum ersten Mal. Der mittlerweile 29-Jährige hatte bereits mit 19 Jahren seine ersten großen Erfolge gefeiert. Er strahlt immer noch eine fast kleine Junge-Energie aus, ein nahezu idealer Kandidat für ein Titelblatt. In Trondheim sicherte er sich nun die Silbermedaille auf der Normalschanze für die DSV-Skisprungadler, deren Ruf nach ihrem Rückschlag bei der Vierschanzentournee in den letzten Monaten stark gelitten hat. Auf die Frage, ob er das alles bereits begreifen könne, antwortete er: „Ich habe gerade mein Equipment eingepackt, war noch bei der Dopingkontrolle, und jetzt sitze ich hier in der Pressekonferenz. Ich glaube, es wird noch ein paar Stunden dauern, bis ich das morgen vielleicht richtig verdauen kann. Im Moment bin ich einfach nur glücklich über meine Leistung. Und darüber, auf dem Podium stehen zu dürfen.“

Wellinger wurde in Traunstein geboren und wuchs mit seinen beiden älteren Schwestern Tanja und Julia im Chiemgau auf. Mit sechs Jahren sah er Sven Hannawald im Fernsehen die Tournee auf allen vier Schanzen gewinnen; mit zwölf Jahren wechselte er von der Realschule in Traunstein auf ein Ski-Internat in Berchtesgaden. Anfangs war er Nordischer Kombinierer, wechselte mit 15 dann zum Spezialsprung.
Die Trainer schwärmten von seinem Mut, seinem Körpergefühl und seiner Technik. Die Eltern versuchten hingegen, ihm ein wenig Demut beizubringen: „Ich habe Bedenken, dass der Druck von außen zu groß werden könnte, sodass er sich nicht mehr auf das Skispringen konzentrieren kann. Ich denke, er geht entspannt mit der Situation um und macht sich hoffentlich keine zu großen Gedanken über andere Dinge“, sagte Hermann Wellinger 2012 der SZ.
Jetzt kommt die Großschanze, drei WM-Wettkämpfe stehen noch bevor
Doch manchmal war es herausfordernd, ruhiger zu bleiben. Wellinger hat alle Höhen und Tiefen des Skisprunggeschäfts erlebt, gewann 2014 und 2018 Olympisches Gold und wurde 2017 sowie 2023 Weltmeister. Im November 2014 stürzte er schwer im finnischen Kuusamo und zog sich eine Stauchung der Wirbelsäule sowie eine Luxation des Schlüsselbeins zu, die operiert werden musste. Jahre der Rehabilitation folgten. Im Juni 2019 riss sich beim Training in Hinzenbach das Kreuzband im rechten Knie, im Frühjahr 2020 brach er sich in Australien beim Surfen das Schlüsselbein. Im September 2021 erlitt er einen Meniskusriss. Die Olympischen Spiele 2022 verpasste Wellinger aufgrund einer Corona-Erkrankung, danach ging es wieder aufwärts – der WM-Titel in Planica belegt das.
Als im Januar die schwierigen Wochen für die Deutschen begannen, mit Negativrekorden im Weltcup, war Wellinger noch die größte Konstante im deutschen Team. „Bei mir lief es noch am besten, stabil um Platz 15 herum. Aber ich habe es auch nicht geschafft, auf die obersten Plätze zu springen“, bemerkte er nach seinem WM-Silber.

Wie ist er wieder in die Spur gekommen? Wellinger hat einige Veränderungen vorgenommen, seine Ski stammen seit geraumer Zeit aus der Firma von Marcel Hirscher. Kurz vor den Wettkämpfen in Trondheim wurden zudem Anpassungen im Anlaufverhalten und im Anzug vorgenommen. Er sitzt jetzt etwas lockerer in der Hocke, um seine große Stärke, „die langen Haxen“, wie er sagt, beim Absprung besser auszunutzen. Seine Technik ist fast ideal. Außerdem habe es ein „Um den Spannungsgrad des Anzugs“ gegeben. „Wir haben in der Gesamtlänge ein wenig mehr Zug draufgemacht, es handelt sich dabei um einen Zentimeter – also eigentlich nichts.“ Doch das hilft Wellinger in der Feinabstimmung: „90 Prozent von dem, was die Leichtigkeit ausmacht, ist das Körpergefühl und der Sprung.“
Mit diesem Körpergefühl und neuem Selbstvertrauen sprang Wellinger am Sonntag 106,5 und 104,5 Meter – und entfachte damit eine kleine Euphoriewelle unter den bisher gebeutelten deutschen Skispringern. Der viertplatzierte Karl Geiger, sein langjähriger Weggefährte, äußerte: „Ich habe vor ein paar Wochen schon gesagt, dass wir nicht abgeschrieben werden sollten. Wir haben versucht, die Ruhe zu bewahren. Es ist nicht einfach, wenn man von allen Seiten belächelt wird. Aber Welle und ich sind auch mental dort, wo wir hingehören.“
Jetzt steht die Großschanze an, drei WM-Wettkämpfe sind noch geplant, beginnend mit dem Mixed am Mittwoch. Der Bakken liegt den Deutschen, das haben sie in den letzten Tagen immer wieder betont. Bei einem Lehrgang im Sommer 2024 „hatten wir dort einige schöne Sprünge. Wir können jetzt mit breiter Brust auftreten“, sagt Geiger. Wellinger, dieser schlanke Junge aus dem Chiemgau, hat zwar kein breites Kreuz, aber viel Gefühl für den Moment.