Tarot, Exorcism and Parapsychology: Russia’s Escape into the Irrational
Milliarden für Magie statt Brot
Zahlen von Numerologen, Astrologen, Schamanen, Wahrsagern und diversen Magiern sowie Heilern: Der Sektor für okkulte Dienstleistungen in Russland boomt und erzielt Milliardenumsätze. Laut Forbes stiegen die Verkaufszahlen von Wahrsagekarten im Jahr 2024 auf umgerechnet fast 19 Millionen Euro – das sind zehn Millionen Euro mehr als 2022. Seit 2021 haben sich die Verkaufszahlen von Tarotkarten sogar fast verneunfacht. Laut der Zeitung MK (Московский комсомолец) gaben Russen im vergangenen Jahr fast 24 Milliarden Euro für verschiedene esoterische Dienstleistungen aus – das sind vier Milliarden Euro mehr als für Lebensmittel. Der Bedarf an magischer Hilfe in Russland scheint also größer zu sein als der an Nahrung. Dieser Trend hat mittlerweile sogar russische Politiker aufgeschreckt: Der Duma-Abgeordnete Andrei Swinzow brachte im Januar einen Gesetzentwurf ein, der Werbung für Tarotberater und Magier verbieten soll.
Trotz vereinzelter Kritiken aus der Gesellschaft hält der Trend an. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts WZIOM zeigte, dass zwar 83 Prozent der Russen skeptisch gegenüber Tarotkarten sind. Dennoch glaubt laut dem unabhängigen Lewada-Zentrum nahezu ein Drittel der Bevölkerung an den „bösen Blick“ und die Kraft von Flüchen – doppelt so viele wie noch vor sieben Jahren. Andrei Kowaljow, Vorsitzender der Allrussischen Unternehmerbewegung und selbsternannter „Kämpfer gegen Betrüger“, schätzt, dass in Russland rund 900.000 Tarotberater, Astrologen und Heiler tätig sind. „Russland wird von mittelalterlicher Dunkelheit überrollt, und Millionen Bürger werden zu Opfern“, äußerte er in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Nationale Služba Novostej (NSN).
Mystik an der Macht
Die Faszination für Mystik findet auch in der Elite des Landes Anklang. Die russische Führung betont unermüdlich sogenannte „traditionelle Werte“, die angeblich zum russischen Volk gehören, und preist Russland als Bastion christlicher Werte im Kampf gegen den „satanischen Westen“. Doch hinter der orthodoxen Fassade scheint der Glaube an Okkultismus weit verbreiteter zu sein als der an Gott.
Präsident Wladimir Putin inszeniert sich zwar als Verfechter des orthodoxen Glaubens, soll aber auch eine besondere Faszination für Mystik und Schamanismus besitzen. Schamanismus ist ein fester Bestandteil der Kultur vieler Völker im Osten Russlands. Daher ist es nicht ungewöhnlich, dass der Präsident Interesse an diesen Glaubensgemeinschaften zeigt und sich mit deren Vertretern trifft.
Gerüchte besagen jedoch, dass Putins Interesse weit über das eines Staatslenkers und vermeintlich gläubigen Christen hinausgeht: Der russische Journalist und Spiegel-Kolumnist Michail Zygar behauptet, Putin nehme an schamanischen Ritualen teil und lasse sich in Fragen des Krieges von verschiedenen Mystikern beraten. Zygar beruft sich dabei auf eine kremlnahe Quelle. Auch Putins offizieller Besuch in der Mongolei im September 2024 soll mit dem Treffen von Schamanen in Verbindung gestanden haben.
Sogar das Militär verlässt sich auf übernatürliche Dienstleistungen: Eine Zeitschrift des Verteidigungsministeriums (Армейский сборник) berichtete, dass russische Soldaten in Kampftechniken der Parapsychologie geschult werden und diese bereits erfolgreich im Einsatz genutzt haben, um den Feind „berührungslos“ zu besiegen.
In den höchsten Kreisen der russischen Wirtschaft ist der Glaube an Magie und Astrologie weit verbreitet, berichtet Zygar. Seiner Aussage nach konsultieren einige der wohlhabendsten Menschen Russlands regelmäßig sogenannte „Medizinmänner“, bevor sie wichtige Entscheidungen treffen. „Die Nachfrage nach paranormalen Beratern hat in den vergangenen fünf Jahren deutlich zugenommen“, schreibt Zygar im Spiegel.
Auch in der Geschäftswelt tauchen solche ungewöhnlichen Praktiken immer wieder auf. So suchte das IT-Unternehmen ITGlobal.com in einer aktuellen Stellenanzeige auf der Plattform HeadHunter nach einem festangestellten Exorzisten. Das angebotene Monatsgehalt für den Spezialisten zur Dämonenaustreibung lag bei umgerechnet mehr als 1.300 Euro.
Historische Parallelen: Irrationalität als Krisenphänomen
In Zeiten von Angst und Unsicherheit suchen Menschen zunehmend nach Halt und Antworten – oft bei jenen, die vermeintliche Gewissheit bieten können. Besonders deutlich wurde dies in den späten 1980er Jahren, als das riesige Land vor tiefgreifenden Veränderungen stand. Damals erlangte der Hellseher Anatoli Kaschpirowski landesweite Popularität, indem er Menschen über den Fernseher „heilte“. Tag für Tag saßen Millionen Zuschauer vor ihren TV-Geräten, während der selbst ernannte Heiler behauptete, das Wasser in ihren Wohnungen mit „heilenden Energien“ aufzuladen.
Unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion suchten die atheistisch erzogenen Sowjetbürger in der Welle der enttäuschten Hoffnungen und der Ungewissheit über die Zukunft massenhaft Trost bei Wahrsagern und Hellsehern. Heute spiegelt sich die gegenwärtige gesellschaftliche und politische Krise Russlands in der Suche nach mystischen Antworten wider. Der Mangel an Möglichkeiten, die Situation im Land zu beeinflussen, und die wachsende Unsicherheit über die Zukunft bringen die Menschen dazu, in Tarotkarten, Horoskopen und schamanischen Ritualen nach Antworten zu suchen, während große Teile der politischen Elite diesen Trend bereitwillig unterstützen.
Eine magische Betrachtung der Welt fungiert oft als psychologischer Schutzmechanismus – ein Weg, um Ängste zu lindern und mit Krisensituationen umzugehen, meint Denis Chachimow vom Moskauer Psychologischen Hilfsdienst. „Aberglaube und okkulte Praktiken helfen, Spannungen abzubauen. Doch die gewonnene Ruhe hält nur so lange an, wie die erfundene Gesetzmäßigkeit scheinbar funktioniert“, erklärt der Psychologe auf der Website der Moskauer Stadtregierung.
Diese Hinwendung zum Okkultismus verdeutlicht, welchen Stellenwert die russisch-orthodoxe Kirche im Denken und Fühlen der Bevölkerung hat. Denn eigentlich sollte sie – zumindest nach ihrem eigenen Anspruch – die erste Adresse sein, an die sich die Russinnen und Russen wenden, wenn sie Trost und Halt suchen. Hier zeigt sich, dass die Rede von Russland als „Bastion christlicher Werte“ eher ein Lippenbekenntnis als eine tatsächlich gelebte religiöse Praxis ist.